Herder veröffentlichte seine erste Sammlung 1793, also in einer Zeit, als die herschende Adelsschicht, die jahrhundelang die Europäischen Völker unterdrückt und ausgeplündert hatte, das erstemal insgesamt bedroht wurde, weil die Französische Revolution die Regierungsgewalt dem Volk insgesamt geben wollte.
Es wurde nicht mehr kritiklos anerkannt, dass die Adligen durch Gottes Willen ihre despotische Herrschaft ausüben sollten.
Auch die Kirchen hatten bis dahin ihre eigenen ethischen Grundsätze verraten und geholfen, dass die Adelsschicht so lange ihre Unterdrückungsherrschaft aufrechterhalten konnte.
Wie argumentiert Herder in diesem Zwiespalt ?
- er ist bürgerlich und lebt unter adliger Herrschaft
- bewundert er die franzöische Revolution und ihre Ideale, wie viele andere es in dieser Zeit anfangs taten oder ist er kritischer
- klagt er die Adligen offen und aggressiv an oder ist er diplomatischer und versucht sie so zu beeinflussen, dass sie ihr Verhalten ändern und nach ethischen Grundsätzen handeln.
- warum wählt er die Briefform und nicht eine andere literarische Form ?
Zuerst muß man sich wohl an den Schreibstil gewöhnen, er ist sehr langatmig und mit idealistischen Platitüden überfrachtet.Damit will Herder wohl auch die Denkweise der Gesprächsteilnehmer charakterisieren.
Aber die Menschen hatten damals nicht viel Ablenkungen und liebten es, umfangreiche Texte zu lesen.
Die Briefe beschreiben die Diskussion zwischen mehreren Teilnehmern, die aber nur durch Buchstaben gekennzeichnet und nicht charakterisiert werden.
Was sind seine Kernaussagen, die er geschickt umrahmt, so dass sie nicht zu aggressiv wirken ?
Zitate aus Brief 1:
„In die Gedanken- oder Handlungssphäre andrer größerer Menschen gesetzt,“ sagte B, „nehmen wir teil an ihrem Geist;wir denken mit ihnen, auch wenn wir mit ihnen nicht wirken konnten, und freuen uns ihres Daseins. Je reiner die Gedanken der Menschen sind, desto mehr stimmen sie zusammen; die wahre unsichtbare Kirche durch alle Zeiten, durch alle Länder ist nur eine.“
Und etwas später:
„Kein Parteigeist soll unser Auge benebeln, keine Schmeichelei unser Angesicht schänden. Unter uns ist, wie jener Apostel sagte, kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib; wir sind eins und einer:“
“ .. und so ward ein Bund der Humanität geschlossen.“
Wenn das Gewaltherscher wie Wilhelm II oder Hitler gelesen und verstanden hätten, hätten sie es wohl sofort verboten.
Aus diesen 2 Zitaten können wir folgern:
- Herder möchte eine Diskussiongsgruppe gründen, die vertrauensvoll zusammenarbeitet, so daß alle möglichst vorurteilsfrei und offen alle Themen diskutieren können.
- gesellschaftliche Unterschiede oder Unterschiede zwischen Völkern sollen keine Ungleichheit in dieser Diskussionsgruppe erzeugen.
Eigentlich eine hochmoderne Zielsetzung, die wir bisher aber auch noch nicht global erreicht haben.
Die Briefform hat Herder wohl als Stilmittel gewählt, damit ein Gedankenaustausch zwischen mehreren Teilnehmern dargestellt werden kann, der keinen strengen Stilregeln folgen muß. In späteren Briefen sieht man, daß manchmal nur Fragen gestellt werden ohne daß versucht wird, sie zu beantworten.
Briefe waren damals das technische Mittel; heute sind es Blogs, Wikis, Newsgroups und Ezines.
Zitate aus Brief 2
In diesem Brief schreibt er eine Laudatio über Franklin, dessen Autobiographie er lobt und allen Teilnehmern empfiehlt, zu lesen.
“ Sie wissen, was ich von Franklin immer gehalten, wie hoch ich seinen gesunden Verstand, seinen hellen und schönen Geist, seine sokratische Methode, vorzüglich aber den Sinn der Humanität in ihm geschätzt habe, der seine kleinsten Aufsätze bezeichnet.“
und etwas später:
„Er nimmt sich der Armen an, nicht anders aber, als daß er ihnen Wege des Fleißes mit überwiegender Vernunft eröffnet.“
Wie lassen sich nun die Fragen oben beantworten ?
- Herder greift die Adligen nicht direkt an.
- er stellt das Ideal freier, gleich berechtigter Menschen dar, die zusammenarbeiten
- er stellt einen Mann – Franklin – als Vorbild dar, der sich energisch und wirkungsvoll als amerikanischer Diplomat einsetzte, die USA unabhängig von England zu machen und dabei Blutvergießen zu vermeiden.
Franklin hat neben seiner Autobiographie, die er für seinen Sohn geschrieben hat, auch ein Buch geschrieben, wie man Wohlstand erwerben kann.
Seine Bücher in Englisch können kostenlos von der online – Bücherei Gutenberg runtergeladen werden, auch im mobi-Format für die Kindle-eBook Lesegeräte.
Da Herder Franklin als leuchtendes Beispiel vorstellt und empfiehlt, seine Schriften zu lesen, wollen wir seiner Empfehlung folgen einige Schriften von Franklin lesen, damit wir besser beurteilen können, was Herder damit wohl bezweckt. Denn Franklin mag für die meisten Adligen in Europa zu jener Zeit eher als Rebell gegolten haben und Herder ist damit sehr mutig.
Auf der anderen Seite vermeidet er, zumindest in diesen ersten beiden Briefen, die Französische Revolution als Vorbild hinzustellen und für ihn als Humanisten mag sie auch nicht akzeptabel gewesen sein, da durch sie eine despotische Herrschaftsform durch eine noch brutalere abgelöst wurde.